Diskussion

Viele Perspektiven weiten den Blick

Die nachhaltige Weiterentwicklung des Gesundheitssektors bedarf des offenen und interdisziplinären Austauschs aller an seiner Gestaltung beteiligten Personen. Durch die Sammlung von Statements von Expertinnen und Experten aus dem Gesundheitswesen zu den Themenfeldern Innovation, Autonomie und Sicherheit wollen wir gern einen Beitrag leisten, um Debatten und daraus resultierende co-kreative Transformationsprozesse anzustoßen.

Wenn Sie Interesse haben, einen kurzen Text einzureichen (ca. 1.000 Zeichen inkl. Leerzeichen), wenden Sie sich bitte an Dr. phil. André Körner unter a.koerner(at)cbtmed.de

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Wir freuen uns über Ihren Beitrag und den damit verbundenen Austausch.

Innovation im Gesundheitswesen 

Wir haben Expert*innen gefragt: Was bedeutet für Sie Innovation im Gesundheitswesen – und was

erwarten Sie sich davon?

 

► Every day, we apply our deep knowledge in science and technologies to create digital solutions that help resolve challenges in healthcare.

We are bringing patients, lab and hospital leaders, leading innovators and clinicians together to explore and test new ideas that improve diagnosis, clinical decision making and delivery of care for patients around the globe. With the use of digital healthcare ecosystems, we can, together and right now, innovate to change lives quickly and  effectively for all. Please join us on this journey.

Corinne Dive-Reclus is Global Head of Lab Insights for Roche Information Solutions (RIS), focusing on delivering digital diagnostics solutions that empower healthcare professionals and patients to make insights-based decisions.

 

► Gerade im Bereich der Seltenen Erkrankungen – wo wir noch so wenig zu den einzelnen Erkrankungen wissen, Menschen lange auf die richtige Diagnose warten und krankheitsspezifische Therapien rar sind – erhoffen sich die Betroffenen viel von Innovationen für ein besseres und längeres Leben. Künstliche Intelligenz kann die Wege zu einer richtigen Diagnose verkürzen, moderne Gendiagnostik zu der richtigen Diagnose verhelfen, neuartige Therapien (ATMP (Advanced Therapy Medicinal Products)) können Leben retten. Doch damit innovative Technologien hier zielführend zur Anwendung kommen, bedarf es vorab einer guten Vernetzung unter Expertinnen und Experten auf Ebene der Zentren für Seltene Erkrankungen, aber auch zwischen den Versorgern in der Niederlassung und in Zentren. Dafür setzen wir uns als Dachorganisation mit anderen Akteuren ein.

Dr. med. Christine Mundlos, M.Sc., stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V. (ACHSE e.V.), Leiterin des ACHSE Wissensnetzwerks

 

► Die Universitätsmedizin in Deutschland hat ihre Leistungsfähigkeit vielfach unter Beweis gestellt, auch in der SARS-CoV-2-Pandemie. Nun hat eine Forschergruppe am Universitätsklinikum Bonn (UKB) einen Test mit der LAMP-Seq-Technik entwickelt, der zuverlässig sowie preisgünstig ist und der die gleichzeitige Untersuchung einer großen Zahl von Proben erlaubt (https://ukb-test.de). Dies ist eine weitere sehr hilfreiche Anwendung der Sequenzierungs-Technologie, die auch mit dem Ziel der immer mehr personalisierten Medizin viel bessere Dia­gnosestellungen und Therapieplanungen, z. B. in der Onkologie, ermöglicht.

Insgesamt sind kluge und innovative IT-Anwendungen ein großer Fortschritts-Treiber, weil viel schneller komplexe und vielfältige Befunde analysiert, Algorithmen eingesetzt und für den Patienten nützliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Bei der medizinischen Bildgebung mit CT, Ultraschall, MRT, PET etc. kommt es darauf an, dass die entsprechenden Datenstellen direkt und vollständig am Point of Care, d.h. am zu behandelnden Patienten, sofort abgerufen werden können. Hier hilft uns am UKB, dass wir zusammen mit der Telekom den ersten 5G-Campus in Deutschland schaffen konnten. Wir waren auch eine der ersten Klinken, welche die elektronische Krankenakte eingeführt haben, und auch in der Verwaltung führt die IT zu schnelleren und effizienteren Abläufen.

Unser Ziel ist es aber immer, dass IT-Anwendungen den Patienten zugutekommen, zum Beispiel als App, so dass auch zu Hause die bestmögliche Therapie in Zusammenarbeit mit dem Zentrum fortgesetzt werden kann. Ein Beispiel hierfür ist unsere Hämophilie-Ambulanz, bei der die Lebensqualität der betroffenen Patienten dadurch noch einmal signifikant steigt, dass sie ihre täglichen Parameter direkt bildlich und textlich über eine App kontinuierlich melden, von wo aus dann eventuell nötige Modifizierungen der Faktor-VIII-Therapie gesteuert werden können. So kann auch frühzeitig erkannt werden, ob sich möglicherweise Antikörper gebildet haben, die das Umsteigen auf ein anderes Präparat erfordern. Auch dieses Beispiel zeigt, worum es geht: Die modernen Technologien sollen kein Selbstzweck sein, sondern sie sollen den Menschen direkt helfen, weniger durch Krankheiten belastet zu sein.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Wolfgang Holzgreve, MBA, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender, Universitätsklinikum Bonn

 

► Gerade auf dem Gebiet der Seltenen Erkrankungen ist die Einrichtung von Arbeitskreisen sinnvoll und wünschenswert, damit es besser gelingt, die Interessen aller Beteiligten zu erfassen. Idealerweise nehmen Ärzt*innen betroffener Fachrichtungen (bei den Mastzell­erkrankungen sind das viele), Therapeut*innen und Vertreter*innen von Sozialverbänden, Krankenkassen und Selbsthilfeeinrichtungen teil.

Ziel sollte es sein, Abläufe zu erkennen und zu vereinfachen (Stichworte: Diagnostikleitfaden, Patientenakte, Schwerbehinderungs- und Rentenverfahren etc.). Auch sollte ein besseres Verständnis unter den Parteien entstehen, um das Verhältnis von Ärzt*innen, Patient*innen und Sozialsystemen nachhaltig zu optimieren und alle Betroffenen kompetent im Umgang mit der Erkrankung zu machen. Wenn dies gelingt, kommt es m.E. auf Dauer auch zu einer Entlastung des Sozialsystems (Stichworte hier: Laufen von Praxis zu Praxis, doppelte Diagnostik, Wartezeiten bis zu einer Diagnose, Chance auf schnellere Genesung, Wiedereinstieg in den Beruf). Gemeinsame Projekte stärken das Vertrauen in die Kompetenz anderer und schaffen die Basis für konstruktives Miteinander.

Waltraud Schinhofen, 1. Vorsitzende des Mastozytose e.V. Der Verein ist seit 2002 auf dem Gebiet der Selbsthilfe tätig und betreut derzeit ca. 600 von Mastzell­erkrankungen betroffene Mitglieder

 

► Eine Innovation in der Medizin hat nicht selten einen sehr weiten Weg genommen. Von der naturwissenschaftlich geprägten Grundlagenforschung über die anwendungsorientierte klinische Forschung bis hin zur Entwicklung eines Produktes oder einer Dienstleistung durch ein Unternehmen, die Menschen zugutekommen, ist es ein weiter Weg. Dabei sind Stakeholder aus unterschiedlichsten Bereichen und Disziplinen involviert. Eine nachhaltige Innovation in der Medizin schafft es, die Bedürfnisse und Anforderungen sämtlicher Stakeholder zu adressieren. Gleichzeitig ist die frühzeitige Einbindung aller relevanter Gruppen ein kritischer Erfolgsfaktor für Innovationen in der Medizin.

Neben dem erwartbaren Nutzen einer Innovation spielt insbesondere die Perspektive der Nutzer*innen und Anwender*innen der Innovation eine zentrale Rolle für den Erfolg oder Misserfolg einer Innovation in der Medizin. Deswegen setzt sich z. B. das Cluster Medizin.NRW für eine breite Vernetzung über Disziplingrenzen hinweg ein.

Dr. Patrick Guidato – Clustermanager MEDIZIN.NRW; der Biochemiker und Wissenschaftsmanager Dr. Patrick Guidato leitet das Cluster Medizin.NRW, welches als zentrale Kompetenzplattform für alle Akteur*innen der innovativen Medizin in Nordrhein-Westfalen agiert.

 

► Bezeichnet man etwas als „innovativ“, dann denkt man in der Medizin spontan an Neuerungen wie Telemedizin, mRNA-Impfstoffe, KI etc. Sicherlich zu Recht. Innovativ ist für mich jedoch etwas Zentraleres:  die Steigerung der kommunikativen Beziehungen zwischen Ärzt*innen und Patient*innen genauso wie zwischen den medizinischen Disziplinen und Fachabteilungen. Vor lauter Innovation im medizintechnischen Detail kommt das Gespräch stets zu kurz. Dabei ist es nicht ein „nice to have“, sondern elementarer Bestandteil von Anamnese, Behandlung, Heilung und Palliation. Sprache schafft Vertrauen, bestimmt das Erleben und fördert Zugehörigkeit. Nur dann, wenn die Fachabteilungen patientenzentriert miteinander kommunizieren, können sie gemeinsame Erfolge haben, ohne dass Patient*innen Behandlungsodysseen durchmachen müssen. Die richtigen Worte zu finden, muss gelernt werden. Statt Kommunikationstrainings in der Freizeit zu absolvieren, sollten sie Kernbestandteil einer jeden Mediziner*innenausbildung sein. Das ist innovativ.

Prof. Dr. phil. Dirk Lanzerath, Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften, Mitglied im Kollegium des Zentrums für Ethik und Verantwortung (ZEV) an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

 

► Veränderungen sind intrinsisch in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben. Der Begriff der Innovation kann als kulturspezifischer Versuch der Bändigung von Veränderungsprozessen verstanden werden. Damit verändern sie unser Erleben von Krank- und Gesundsein ebenso wie gesellschaftliche Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit und soziale Differenzierungsprozesse. Innovation als gesteuerte und zielgerichtete Veränderung verlangt dann eine Analyse der absichtsvollen Ziele, aber auch – und vielleicht vor allem – der in Innovationsprozessen enthaltenen impliziten Vorstellungen und Werte. Dies ermöglicht es, (un-)intendierte gesellschaftliche Konsequenzen zu antizipieren und wo nötig zu adjustieren und bei Entwicklung und Einführung von „Innovationen“ umfassend deren Wirkungsweisen zu untersuchen.

Prof. Dr. phil. Christine Holmberg, M.P.H., Leiterin des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie, Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane

 

► Unter Innovationen im Gesundheitswesen verstehe ich Projekte und Produkte, die in der täglichen medizinischen Praxis, in der Regelversorgung wirklich ankommen und für alle Patientinnen und Patienten verfügbar sind. Wenn ich mit diesem Blick auf Deutschland schaue, lässt sich exemplarisch an der Telemedizin nüchtern feststellen, dass aus den zahlreichen Forschungsprojekten und Initiativen, mit viel Geld und Herzblut gefördert, aufgrund der Strukturen in unserem Gesundheitswesen kaum Innovation entstanden ist. Dabei zeigen die Pandemie und auch der Blick in andere Länder das enorme Potenzial der Digitalisierung auf – direkte Einbindung von Patientinnen und Patienten, ortsunabhängig verfügbares bestes medizinisches Wissen, Entscheidungsunterstützung für Ärztinnen und Ärzte. Dabei wäre die wichtigste Innovation ein besserer Umgang mit Daten – eine transparente Verfügbarkeit medizinischer Informationen für Patientinnen und Patienten genauso wie anonymisierte Datensammlungen, die für die datengetriebene Forschung genutzt werden können.

Prof. Dr. Britta Böckmann, Professorin für Medizinische Informatik, Fachhochschule Dortmund

 

► Es gibt sehr viele Bereiche des Gesundheitswesens, in denen Innovationen wünschenswert sind. Vor allem im therapeutischen Bereich und in der Pharmakologie. Die Entwicklung der mRNA-Technologie bspw. lässt nicht nur auf neue Impfstoffe hoffen, sondern ermöglicht ganz neue Perspektiven auch in der Krebsbehandlung, v. a. auch in Kombination mit den Potentialen personalisierter Therapieoptionen.

Im Fokus meiner Perspektive als Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung auf das Thema Innovation liegen strukturelle Entwicklungen. Wir brauchen eine Digitalisierung, die das Ziel verfolgt, allen Praxen sichere und belastbare IT-Strukturen ohne hohe Kosten und ohne großen Aufwand zur Verfügung zu stellen. Wir müssen aus den bisherigen Erfahrungen lernen – zu viele Systeme, zu wenig Kompatibilität und kurzlebige Technik führten zu immensen Belastungen bei allen Beteiligten. Einfache und sichere Standards sowie Unabhängigkeit von den z. T. marktbeherrschenden PVS-Herstellern sind das Gebot der Stunde.

Innovatives Denken und Handeln erfordert zudem der Aufbau von Management- und Kommunikationsstrukturen, die in der Lage sind, sektorenübergreifende Innovationsprojekte, wie sie auch durch den Innovationsfonds gefördert werden, zu realisieren und in der Regelversorgung zu etablieren, um das Potential einer Körperschaft wie der KV voll entfalten zu können. Hier bedarf es eines klaren Auftrags und einer ausreichenden Finanzierung für die nachhaltige Gewährleistung der Patientenversorgung.

Dr. med. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie.

 

► Technische und damit auch medizinische Innovationen hängen häufig von Entdeckungen ab. Diese lassen sich jedoch kaum planen. Ein Blick in andere Disziplinen als der Medizin zeigt, dass es oft Jahre oder Jahrzehnte dauern kann, bis ein Fortschritt erreicht wird. Was jedoch ganz und gar in unserer Hand liegt und planbar ist – nämlich immer dann, wenn wir es so entscheiden und entsprechend umsetzen –, ist die Art und Weise, wie wir Medizin betreiben und welche Stellung diese Medizin in unserer Gesellschaft haben soll. Wir haben in Deutschland eines der besten Systeme weltweit. Und doch haben wir Mängel. Deshalb bestehen in meinen Augen – plan- und machbare! – Innovationen im Bereich der Medizin für mich u.a. in diesen Punkten: mehr Therapeut*innen für die Behandlung der zunehmenden psychisch-mental-emotionalen Erkrankungen; mehr Zeit für Gespräch in der Alltagspraxis; deutlich bessere Bezahlung von Pflegekräften und medizinischem Personal (und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie); keine weitere Durch-Kapitalisierung der Medizin, denn Prozesse der Heilung bringen eine Verringerung von Leiden, aber nicht notwendig monetären Gewinn; ein Abrücken von einer rein statistischen Medizin hin zu einer „taktilen“ und personalisierten Anamnese und Therapie, etwa in der Orthopädie; Aufspaltung von medizinischen Disziplinen wie der Gynäkologie nur dann, wenn es fachlich und nachweislich Vorteile bringt; eine kompetentere Aufstellung der Kinder- und Jugendmedizin sowie, last but not least, eine deutlich verbesserte medizinische Kommunikation in die Gesellschaft hinein. All das umzusetzen wäre hoch innovativ: und hilfreich!

Prof. Gert Scobel, Philosoph und Theologe, u.a. Moderator der Sendung „scobel“ (3sat), Mitglied im Kollegium des Zentrums für Ethik und Verantwortung (ZEV) an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

Autonomie im Gesundheitswesen 

Wie sieht für Sie Autonomie im Gesundheitswesen aus? Wo muss Sie in jedem Fall gewährleistet sein?

Sicherheit im Gesundheitswesen 

Welche Bedeutung hat für Sie Sicherheit im Gesundheitswesen? Wo ist sie vorhanden? Und wo fehlt sie?